Brief an Baerbock: UN-Sonderberichterstatterin kritisiert Selbstbestimmungsgesetz - WELT (2024)

UN-Sonderberichterstatterin Reem Alsalem warnt davor, Schutzräume von Frauen aufzulösen und verweist auf traumatisierende Folgen. Auch berge das deutsche Gesetz „erhebliche Risiken für den Kinderschutz“. Die Bundesregierung reagiert einsilbig.

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Die UN-Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Reem Alsalem, übt Kritik am Selbstbestimmungsgesetz der Bundesregierung. Sie warnt in einem Schreiben an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) vor Menschenrechtsverletzungen bei Frauen und Mädchen mit Inkrafttreten des Gesetzes im November 2024.

Der Brief, der WELT vorliegt, ist datiert auf den 13. Juni 2024 und umfasst 17 Seiten. Sie sei „besorgt“ darüber, dass das Gesetz in der jetzigen Form zahlreichen Menschenrechtsverpflichtungen nicht gerecht werde, insbesondere gegenüber allen Frauen und Mädchen, schreibt Alsalem. Sie erinnert die Bundesregierung an die Verpflichtungen als Mitglied der UN, der Diskriminierung von Frauen entgegenzutreten und geschlechtsbezogene Gewalt zu verhindern und strafrechtlich zu verfolgen.

Es bestehe eine unabdingbare Verpflichtung der Staaten, „Diskriminierung und Gewalt aufgrund des Geschlechts“ zu verhindern. „Besonderheiten, die sich aus biologischen Unterschieden ergeben“, müssten berücksichtigt werden. Es sei „in jedem Fall sicherzustellen, dass Frauen ein Leben frei von jeglicher Form von Gewalt führen können“, schreibt Alsalem weiter, und fordert eine Stellungnahme der Bundesregierung binnen 60 Tagen.

Brief an Baerbock: UN-Sonderberichterstatterin kritisiert Selbstbestimmungsgesetz - WELT (1)

Sie findet deutliche Worte für Deutschland: „Das Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbestimmung scheint die spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen in all ihrer Vielfalt nicht ausreichend zu berücksichtigen, insbesondere die derjenigen, die männlicher Gewalt ausgesetzt sind oder Opfer männlicher Gewalt geworden sind.“ Es sehe keine Schutzmaßnahmen vor, die sicherstellten, dass das Gesetz „nicht von Sexualstraftätern und anderen Gewalttätern missbraucht“ werden könne.

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Sie habe darüber hinaus „beunruhigende Berichte über mutmaßliche Fälle sexueller Gewalt“ gegen Frauen in Deutschland erhalten, die von Personen verübt wurden, die sich selbst als Transgender oder nicht-binär identifizierten. Alsalem betont, dass Transgender-Personen keine Bedrohung darstellten. Doch empirische Belege zeigten, dass die Mehrheit der Sexualstraftäter männlich seien. Durch das neue Gesetz bestehe die Gefahr, dass diese „Zugang zu Räumen erhalten, die nur für ein Geschlecht bestimmt sind oder aus Sicherheitsgründen Frauen vorbehalten“ seien. „Diese bereits jetzt vorkommenden Gewalttaten könnten sich mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur geschlechtlichen Selbstbestimmung noch verschärfen“, warnt Alsalem.

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„Nach diesem Gesetz wird der Prozess der Änderung des Geschlechtseintrags im Personenstandsregister (...) beschleunigt und basiert ausschließlich auf der Erklärung des Antragstellers.“ Es gebe eine Reihe internationaler Rechtsnormen, welche die Bedeutung getrennter Einrichtungen für Männer und Frauen auf der Grundlage des Geschlechts unterstrichen. Sie nennt hier als Beispiel Haftanstalten.

Die UN-Berichterstatterin verweist auch auf die – bereits bekannt gewordenen – Probleme bei der Auslegung des Hausrechts. Denn es gehe nicht auf die damit verbundenen spezifischen Probleme ein. Man könne das Selbstbestimmungsgesetz so verstehen, dass jeder mit seinem im Personenstandsregister eingetragenen Geschlecht Zugang zu bestimmten Räumen verlangen könne. Wer sich als Frau identifiziere, könne demnach Toiletten oder Umkleidekabinen von Mädchen und Frauen betreten, kritisierte sie. Hier nennt sie explizit Fälle von Frauen, die bereits jetzt in Deutschland berichtet hätten, in Damentoiletten von Fitnessstudios auf Männer gestoßen zu sein.

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Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, berichteten laut Alsalem vor psychischen Problemen durch die Erfahrung, dass Frauen-Schutzräume nun auch von gebürtigen Männern betreten werden könnten. All diese Entwicklungen könnten sich negativ auf das Sicherheitsgefühl von Mädchen und Frauen auswirken, warnt sie. Für weibliche Gewaltopfer könne das „erzwungene Teilen sehr privater Räume“ wie Umkleiden oder Toiletten, möglicherweise sogar Frauenhäusern, erheblich negative Folgen haben und erneute Traumata auslösen. Es sei von entscheidender Bedeutung, dass Deutschland „Schutzmaßnahmen und geschlechterspezifische Angebote“ für Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, bereitstelle.

„Erhebliche Risiken für den Kinderschutz“

Hart ins Gericht geht Alsalem auch mit medizinischen Maßnahmen zur Geschlechtsanpassung. Da eine therapeutische Begleitung etwa bei Brustamputationen oder Hormontherapien nicht mehr vorgeschrieben sei, stelle sich die Frage, wie Schäden verhindert werden könnten. Vor allem bei Kindern sei das Selbstbestimmungsgesetz gefährdend. Es sei „sicherzustellen“, dass Minderjährige und ihre Familien die Auswirkungen, die teils irreversibel seien, „vollständig verstehen“. Alsalem bezieht sich auf den jüngst erschienenen britischen Cass-Report und schreibt: „Die Folgen einer medizinischen Geschlechtsumwandlung für die geistige und körperliche Gesundheit von Kindern sind erheblich und sollten nicht unterschätzt werden.“ Dass Jugendliche ab 14 Jahren nicht einmal mehr das Einverständnis der Eltern benötigten, stehe im Widerspruch zum Kindeswohl, da ein veränderter Geschlechtseintrag dann auch medizinische Eingriffe bei Jugendlichen nach sich ziehen könne. Diese Wechselwirkung sei „unbestreitbar.“

Das Gesetz berge „erhebliche Risiken für den Kinderschutz“. Es sehe keine Regelungen vor, Missbrauch zu verhindern. Angesichts des Machtungleichgewichts zwischen Kindern und Erwachsenen seien auch jüngere Kinder nicht davor geschützt, von Eltern oder Betreuungspersonen mit einer Änderung im Register instrumentalisiert zu werden.

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Dass in Zukunft Geldbußen anfallen, wenn jemand das biologische Geschlecht einer Person offenlegt, die ein anderes angibt, könnte „schwerwiegende Auswirkungen auf die Rechte von Frauen und Mädchen“ haben. Alsalem nennt als Beispiel die Belegung von Männern auf Quotenplätzen von Frauen oder die Teilnahme an Frauensport. Auch könnte diese Sanktionierung die Meinungs- und Redefreiheit, aber auch Gedanken- und Religionsfreiheit beeinträchtigen.

Knappe Antwort der Bundesrepublik aus Genfer Büro

Die deutsche Antwort auf Alsalems Ausführungen fiel denkbar knapp aus. Auch reagierte nicht Baerbock, sondern das Büro für Ständige Vertretung des Auswärtigen Amtes für die UN. In dem auf den 5. August 2024 datierten Schreiben aus der Botschaft, das WELT vorliegt, heißt es von der Chefin für Sonderaufträge: „Die Bundesrepublik Deutschland weist den Vorwurf zurück, sie werde (...) einer Reihe menschenrechtlicher Verpflichtungen nicht gerecht“. Das Gesetz basiere „auf menschenrechtlichen Standards“. Das Hauptmotiv des Selbstbestimmungsgesetzes sei der „Schutz der Geschlechtsidentität einer Person im Einklang mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht“. Dies beruhe auf der deutschen Verfassung.

Es sei ein „Hauptanliegen des Gesetzes“, sicherzustellen, dass geschlechtsspezifische Räume, vor allem Frauenhäuser, „tatsächlich sicher sind“. Gewalt gegen Frauen, „insbesondere von Cis-Männern“, sei Realität. Die Verfasserin verweist auf den Frauenhausverband, der sich dafür einsetze, dass „Frauen in all ihrer Vielfalt“ – auch Trans-Personen – Schutz erhielten. Schließlich verweist die Verfasserin auf den Deutschen Frauenrat als wichtigste Stimme, welcher sich für das Selbstbestimmungsgesetz ausgesprochen habe. Auch habe das Gesetz das Kindeswohl im Blick. Kinder und Jugendliche mit Störungen der Geschlechtsidentität litten unter „psychischem Stress und sozialen Herausforderungen“, die Selbstmordraten seien „besorgniserregend“. Man habe die „Stellungnahme als unabhängige Expertin zur Kenntnis genommen“, heißt es abschließend, und verweist auf vereinfachte Verfahren zur Geschlechtsänderung in 28 weiteren Ländern weltweit.

Das im April im Deutschen Bundestag verabschiedete Selbstbestimmungsgesetz sieht vor, dass Menschen ab 1. November dieses Jahres per Erklärung gegenüber dem Standesamt den Geschlechtseintrag und Vornamen ändern lassen können. Die bisherige Pflicht, eine ärztliche Bescheinigung und mehrere Gutachten dafür vorzulegen, soll wegfallen.

Anna Kröning ist Redakteurin im Ressort Nachrichten & Gesellschaft. Sie recherchiert zu Themen wie Corona-Aufarbeitung, Transgender und Kindesmissbrauch. Alle Artikel finden Sie hier.

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